Leben mit Covid-19

Leben mit Covid-19:

Bericht von Uta, einer Erkrankten


Kerpen, Anfang 2020


Für die meisten Menschen ist 2020 nicht so ein tolles Jahr. Für mich fing es schon ein bisschen früher an, nicht rund zu laufen. Anfang 2019 wurde mir klar, dass ich so nicht mehr weiter machen konnte. Es heißt ja, wenn es der Seele schlecht geht, sagt sie zum Körper: geh du vor, auf mich hört sie ja nicht. Also wurden meine körperlichen Beschwerden so massiv, dass ich schließlich zu meiner Hausärztin ging, die mich erst mal krankschrieb. Diagnose: Burnout. Na dann. Es folgten schwierige Wochen, die zu Monaten wurden, in denen ich durch viel Achtsamkeit, Demut und Neugierde meine Seele entdeckte. Puh, so viele Leichen im Keller. Aber es wurde besser und im Februar 2020 bekam ich endlich einen Platz in einer wunderbaren Klinik für Psychosomatik.


Februar, auf ins Allgäu


Ich packte meinen Koffer für sechs Wochen Oberstdorf im bayerischen Allgäu. In der Klinik sollten wir uns ganz auf uns konzentrieren, deshalb also Abstinenz von also Handy und Nachrichten, auch sonst sollten wir keine Medien an uns ran lassen. Kann ich nur empfehlen, es war wunderbar, einfach viel weniger Input verarbeiten zu müssen. Die Zeit verging wie im Flug, wir waren von der Außenwelt angenehm abgeschnitten. In meiner 5. Woche allerdings sollte sich das ändern.


März, Oberstdorf: Was ist hier los?


Am ersten Wochenende im März wunderten wir Patienten uns, warum die eine oder andere Bar im Ort schon zu war, die Türen versehen mit hastig verfassten Erklärungen: „Schweren Herzens haben wir uns entschlossen...angesichts der aktuellen Lage...“ Diejenigen unter uns, die schon länger da waren, und für die der Nachrichtenverzicht nur noch freiwillig war und deshalb ab und zu etwas mitbekamen, klärten uns auf: Irgendwie ging es wohl um ein hochansteckendes Virus, in Ischgl war ein schlimmer Ausbruch. Österreich war ja nun nur einen kurzen Tagesmarsch entfernt, den wir ab und zu antraten, Rückkehr war bequem mit dem Linienbus möglich. In der Woche drauf gab es allerdings keine Wanderungen nach Österreich mehr: Es fuhren nämlich keine Busse mehr über die Grenze.


Bitte keine Ausflüge mehr...


Plötzlich waren auch Ausflüge in den Ort von der Klinikleitung nicht mehr gern gesehen. Wir sollten uns nur in Kliniknähe aufhalten, im Wald und auf den Wanderwegen, aber bitte nicht mehr in großen Gruppen, und bitte keine Restaurantbesuche. Aber noch war alles vage. Die Regeln änderten sich oft und immer noch konnten wir gar nicht verstehen, was in der Welt da draußen los war.

Die Patienten teilten sich in dieser Situation früh in Rebellen und Gesetzestreue. Am 16. März wollte ich meinen Geburtstag feiern, und es stellte sich heraus, dass ich zwar mein ganzes Leben lang rebellisch war, aber gegenüber der Klinikleitung so positiv eingestellt, dass ich auf einen nicht-regelkonformen Restaurantbesuch verzichtete. Meine neuen Freunde, also Mitpatienten, bereiteten mir trotzdem in der Klinik ein wunderbares Fest mit Deko, Kerzen, Gesang und Geschenken. So ganz ab vom gewöhnlichen Konsum. Draußen tobte Corona, aber wir hatten uns alle lieb!


erste Erkrankungen in der Klinik

 

Angst hatten bis dahin nur wenige. Bis zum Freitag, den 20. März. Alle hatten im Postfach statt des neuen Therapieplans für die kommende Woche einen Brief von der Klinikleitung, der uns davon in Kenntnis setzte, dass ab sofort komplette Ausgangssperre für alle bestehe. Eine Patientin, die schon wieder zu Hause war, war positiv getestet worden. Ab jetzt werde die Klinikleitung vom Gesundheitsamt unterstützt, und ein Krisenstab werde gerade in Oberstdorf eingerichtet. Jetzt war Zeit für Panik. Nach den Mittagessen versammelten sich alle und die Klinikleitung versuchte unsere Fragen zu beantworten. Das war nicht leicht, weil es ja noch keine gesicherten Erkenntnisse gab. Jeder, der abreisen wollte, konnte das tun. Unser ruhiges Beisammensein war vorbei. Die Gerüchteküche kochte über. Aus Datenschutzgründen durften wir nicht wissen, wer die Patientin war. Viele Leute reisten ab. Andere brauchten Medikamente, um die Panik einzudämmen, die entstand, weil nicht klar war, wer oder was dieser Krisenstab war, und sich so eine Sachlage gut dazu eignet, alte Traumata aufflammen zu lassen und sich fremde Männer in Sicherheitsanzügen vorzustellen, die nachts in Zimmer eindringen.


Am Abend vermisste ich plötzlich Barbara, eine meiner engsten Vertrauten. Es stellte sich heraus, dass sie die typischen Corona-Symptome hatte. Aber da das Gesundheitsamt und der Algorithmus bestimmten, wer getestet wurde, bekam sie keinen Test, sondern sollte einfach über das Wochenende in ihrem Zimmer bleiben. Acht andere Patienten waren auch in Quarantäne, da sie mit Patientin 0 in einer Kerngruppe gewesen waren, und warteten auf ihre Testergebnisse.


Ich fühle mich unwohl


Am Samstagvormittag war kein Vortrag wie sonst immer, da keine Referenten von außerhalb kommen durften. Gegen meine Gewohnheit hatte ich das Bedürfnis, mich auf mein Zimmer zurückzuziehen. Hatte ich Fieber? Irgendwie ging es mir nicht gut. Nach dem Mittagessen entschied ich mich, mich bei der Pflegestation zu melden. Ich hätte Fieber? Also, das Thermometer ist jetzt gerade auf Wanderschaft wegen der ganzen Quarantänesache, ob ich vielleicht ein paar Paracetamol brauche? Brav nickte ich und wunderte mich.


Corona-Alarm in der Klinik


Und dann geht es los: Wieder aufs Zimmer. Ich habe keinen Husten, und jetzt, wo ich eine Tablette genommen habe, geht es mir ganz ok angesichts der Unruhe und Unsicherheit, die jetzt überall herrscht.


Ich denke nach. Am Mittwoch ist mein letzter Tag. Wenn ich jetzt Corona hab, muss ich dann zwei Wochen in Quarantäne? Das will ich nicht, ich bekomme ja mit, wie überfordert das Personal ist, schon alleine mit Essen aufs Zimmer bringen, und auf kaltes Essen hab ich keine Lust und da ich Verganerin bin, auch nicht auf unvegane Gerichte. Das passiert dauernd.

Ich brauche eine Fahrkarte. Die Webseite der Deutschen Bahn bricht ständig zusammen. Ich muss hier raus! Immer noch bleibe ich brav und schicke eine Nachricht an meine Therapeutin mit der Bitte, mir zu erlauben, in den Ort zu gehen, um eine Fahrkarte zu kaufen. Die Antwort kommt prompt: ja, darf ich, aber NUR heute und NUR alleine. Jetzt hab ich ein mulmiges Gefühl. Ich gehe den Berg runter zum Bahnhof. Alleine. Zum ersten Mal bin ich im Ort, seit alles komisch ist. Kaum Leute. Die Bank vor dem Bahnhof abgesperrt mit rot-weißem Flatterband. Im Café gibt es allen nur zum Mitnehmen. Der Fahrkartenschalter - geschlossen! Ich bin erschöpft. Jetzt muss ich mich auf die verbotene Bank setzten, soll mich mal einer daran hindern. Nach viel Durchatmen hole ich mein Handy raus, und jetzt funktioniert die Buchung. Ich bin erleichtert.


Montag kommt Barbara aus der Quarantäne raus, sie ist ja nicht getestet worden. Wir umarmen uns erleichtert. Die anderen bleiben, warten auf Ergebnisse. Die zweite Welle wird getestet, das sind Patienten, die nach eigenen Aussagen mit der Patientin Kontakt hatten. Wer hatte das nicht, fragen wir uns. Das Therapiekonzept beruht auf viel Körperkontakt. Wir umarmen uns ständig und teilen alles. Jetzt wird das Essen portioniert, große Gruppen werden verboten, die Tage ziehen sich hin. Mir geht es nicht so gut, ich habe das Gefühl, der ganze Fortschritt, den ich in den letzten sechs Wochen gemacht hab, ist dahin: ich bin gereizt, müde, habe die bekannten Gliederschmerzen.


Zu Hause


Endlich ist Mittwoch und ich fahre nach Hause. Es fahren immer noch keine Busse, also ziehe ich meinen Rollkoffer bis zum Bahnhof. Es kommt mir anstrengend vor, obwohl es doch nur zwei Kilometer sind. Ich weiß jetzt, dass ich Fieber habe, aber das Paracetamol wirkt ganz prima. Ich bin gleich zu Hause, sage ich mir. Nur noch in Nürnberg umsteigen, und dann bin ich schon in Köln. Der Bahnhof in Nürnberg wird umgebaut, alles ist nur per Treppe zu erreichen (wie machen Menschen das mit Kinderwagen oder Rollstuhl??) Egal, gleich kommt der Zug. Der Weg ist endlos. Ich sehe offensichtlich erschöpft aus, denn ein junger Mann bietet mir an, den Koffer die Treppe rauf zu tragen. Ich nehme dankbar an. Erst nachher fällt mir ein, was ist, wenn ich den jetzt angesteckt habe? Im Zug werde ich zurechtgewiesen von der einzigen anderen Mitfahrerin, ich solle gefälligst Abstand halten. Ich höre sie kaum. Ich schlafe immer wieder ein, bis endlich der Zug in Köln ankommt. Erst jetzt fällt mir auf, dass ich ja gar nicht in Köln wohne, sondern noch mit S-Bahn, Bus und zu Fuss nach Kerpen kommen muss. Das schaffe ich nicht. Ich rufe meinen Neffen an, der in Köln wohnt, und gerade unser Familienauto da hat. Autofahren geht noch so gerade. Langsam halt. Ich schaffe es unfallfrei nach Hause und falle ins Bett.


krank wie nie


Die nächsten zwei Wochen bin ich krank. So krank war ich noch nie. Meine Temperatur schwankt zwischen 38,5 und 39,9 Grad. Einen Tag über 40. Ich bin erschöpft, der Hals tut weh, das Atmen fällt schwer. Meine Nichte versorgt mich mit Essen, wir gehen uns aber aus dem Weg so gut es geht. Ich rufe meine Hausärzten an und sie lädt mich ein, in ihre Praxis in Köln zu kommen, dann könnte ich auf Corona getestet werden. Bis zu dem Zeitpunkt hatte ich viel von ihr gehalten. Aber sie hat keine Ahnung von Covid-19: Ich bin viel zu schwach, um irgendwo hin zu fahren. Oder mich über sie aufzuregen.



Test auf Corona? "Ist nur ne´ Grippe"


Ich rufe das Gesundheitsamt an, nenne meine Symptome, sage, dass meine Hausärztin glaube, es sei höchstwahrscheinlich Corona. Ich bitte um einen Test. Na, sagt der Mann vom Amt, also er wüsste ja mal gerne, welche Kristallkugel meine Ärztin benutzt, das könne sie doch überhaupt nicht wissen, für ihn hört sich das nach Grippe an, am besten lege ich mich wieder ins Bett und gönn mir Ruhe. Ich bin platt. Das soll diese schlimme Viruserkrankung sein, aber das Gesundheitsamt interessiert es nicht?


meine Nichte besorgt einen Test: positiv


Meine Schwester, mit der ich zusammen wohne, ist zufällig in einer Reha und bekommt sofort eine Verlängerung, als sie sagt, zu Hause hat jemand Corona. Meiner Nichte ist das alles egal, sie hat keine Angst vor Ansteckung. Nach ein paar Tagen bringt sie mir ein Coronatest-Kit. Ich soll den Abstrich machen und dann bringt sie das wieder zu ihrem örtlichen Hausarzt. 

Nachher erfahre ich, dass meine Tochter und meine Schwester dort täglich angerufen haben, um durchzusetzen, dass ich getestet werde. Am 2. April kommt der Befund: Corona positiv. Ich bin erleichtert, endlich weiß ich, was los ist. Der Arzt kommt und macht einen Hausbesuch, erklärt mir, dass ich ins Krankenhaus kann, wenn es mir richtig schlecht geht. Ich überlege mir das kurz, aber entscheide mich dagegen: wenn das eine Epidemie ist, werden die Pfleger überarbeitet sein, ich hab kein Wlan im Krankenhaus, und überhaupt, ich will ja keine Umstünde machen.


Luftnot: Todesangst


In der zweiten Woche geht es mir immer noch nicht besser, das Atmen fühlt sich an, als ob die Lunge zu klein ist. Ich schlafe kaum, liege im Bett und kann nicht atmen, schrecke immer wieder hoch. Muss ich doch ins Krankenhaus? Ich krieg keine Luft! Als dieser Gedanke immer wieder kommt, erinnere ich mich endlich an meine Meditationspraxis. Und an Byron Katies „The Work“. Mit dieser Methode kommt man seinen Glaubenssätzen auf die Spur, indem man sich fragt: Stimmt das wirklich? Welche Beweise habe ich dafür? Was wäre, wenn ich das nicht glauben Würde, usw. Ich bin nur bis Frage eins gekommen. Ich kann nicht atmen. Stimmt das wirklich? Offensichtlich nicht! Ich sitze also im Sessel, atme ein, atme aus, atme ein, atme aus. Zwischendurch stehe ich auf, schmeiße den Computer an, um meine Patientenverfügung auszudrucken und zu unterschreiben. Weil, was wenn ich nicht mehr atmen kann?


Mutter stirbt an Corona


Ich telefoniere jeden Tag mit meinen Kindern, anscheinend höre ich mich nicht gut an, sie machen sich Sorgen, dürfen mich aber nicht besuchen. Irgendwann ruft das Seniorenheim an, in dem meine Mutter lebt: sie sei gestürzt, aber der Arzt war da und es geht ihr blendend. Danke für den Anruf, sage ich, und merke, ich weiß gar nicht mehr, was die Pflegerin gesagt hat. Zwei Tage später wieder ein Anruf aus dem Heim: meine Mutter ist tot. Auch Corona-positiv getestet, aber jetzt bin ich davon überzeugt, sie ist an Einsamkeit gestorben; sie hatte auf ihrem Zimmer bleiben müssen, komplett ohne Kontakt zu anderen, keine gemeinsamen Mahlzeiten, keine Spaziergänge, keine Kartenspielrunde. Vor was hat man sie schützen wollen? Am Tag des Anrufs aber war ich viel zu krank, um mir irgendwelche Gedanken zu machen. Rufen Sie bitte meine Schwester an, die wird sich um alles kümmern. Schlafen, ich will nur schlafen. Das Fieber zehrt an meinen Kräften.


Drei Wochen nach den ersten Symptomen: endlich fieberfrei


Nach knapp drei Wochen ist das Fieber plötzlich weg. Ich kann wieder aufstehen, aber bin sowas von wackelig auf den Beinen, aufstehen, duschen, frühstücken ist praktisch Tage füllendes Programm. Das Gesundheitsamt bestätigt mir, dass ich nun meine Wohnung in Köln wieder verlassen darf. Es hat nichts genützt, dass ich bei jedem der fast täglichen Anrufe gesagt habe, dass ich in Kerpen bin. Köln ist zuständig, da war ich zuletzt gemeldet, nix zu machen, deutsche Bürokratie verträgt sich nicht immer mit gesundem Menschenverstand. Die schriftliche Bestätigung meiner Quarantäne-Auflagen bekomme ich vier Wochen, nachdem ich dem Gesundheitsamt gemeldet wurde. Nach Köln, an meine Nachmieter.


Beerdigung unter Corona-Bedingungen


Anfang Mai ist die Beerdigung meiner Mutter, vier Wochen nach ihrem Tod. Die Welt steht Kopf. Wir wollen sie im Waldfriedhof beerdigen, in der Nähe ihres Lebensgefährten. Ich hatte mir den Waldfriedhof irgendwie persönlich vorstellt, klein, familiär. Das Gegenteil ist der Fall, es stellt sich heraus, der Wald gehört einer Firma, die deutschlandweit agiert und daher ihre eigenen Regeln aufstellt, die auf alle Bundesländer passen. Also, zur Bestattung dürfen nur fünf Menschen und nur Verwandte ersten Grades. Was soll das denn bitte?! Keine der fünf Enkelkinder, keine ihrer engsten Freunde?

Wir blasen die Sache ab und beerdigen sie auf dem Friedhof nebenan in Kerpen, auch unter einem Baum. Meine Tochter kommt aus England angereist, entgegen der Richtlinien, dass man nur essentielle Reisen unternehmen soll. Wer entscheidet sowas? Eine Geschäftsreise ist wichtig und die Beerdigung der Großmutter nicht? Einige Freundinnen meiner Mutter sind da, manche konnten nicht kommen, weil sie z.B. nicht aus der dem Seniorenheim angeschlossenen betreuten Wohnung durften. Die Pastorin ist wunderbar, wenn sie spricht, merke ich, sie versteht den Lebensweg meiner Mutter. Meine beiden Söhne sind per Videokonferenz dabei, das Handy wird herumgereicht. Zum Kaffee danach kommt niemand, ist ja nicht erlaubt. Wir beschließen, in einem Jahr alle ihre Freundinnen einzuladen und richtig zu feiern. Weil, in einem Jahr ist der Spuk ja schließlich längst vorbei.


Langzeitfolgen: Haarverlust, verlorener Geschmackssinn, Kurzatmigkeit...


Für die Feier beschließt meine Tochter, ich müsste dringend irgendwas mit meinen Haaren machen und wenn die Friseure zu haben, wird sie eben die Sache in die Hand nehmen und mir die Haare färben. Danach fällt mir auf, dass mir die Haare in Büscheln ausfallen, ich denke monatelang, das muss mit der Farbe zu tun haben. Jetzt weiß ich, es waren die Langzeitwirkungen von Corona. Der Haarausfall ist erst Ende September plötzlich zu Ende.


Andere Langzeitwirkungen sind hartnäckiger. Mein Geschmackssinn ist durcheinander gekommen. Schon immer war Koriander mein liebstes Kraut, jetzt schmeckt es nach Seife. Ich schulde meinen Kindern eine fette Entschuldigung dafür, dass ich es damals nicht ernst genommen habe, dass es sowas gibt. Andere Lebensmittel machen auch Probleme. Ich habe eine stark erhöhte Histamin-Intoleranz. Fast alles, was ich esse, erzeugt Übelkeit. Und Niesen, aber das kann man ja verkraften. Kopfschmerzen auch. Mein Immunsystem ist immer noch auf höchster Alarmstufe, sagt der Heilpraktiker. Das Schlimmste ist die Erschöpfung.

Ich kann erst Monate nach meiner akuten Erkrankung wieder eine Stunde am Tag gehen. Nicht laufen oder joggen. Gehen. Ohne Treppen oder Steigungen.


November, erste Reise: alles anstrengend


Nun ist November, die Welt ist immer noch bekloppt, das Wahlergebnis aus den USA steht noch aus, ich bin in England und im plötzlichen Lockdown. Ich darf schon wieder meine eigenen Kinder nur sehen, indem ich die Regeln breche. Wie geht es mir jetzt? Die Symptome sind vielfältig, ich bin ganz schnell außer Atem, es reichen drei Stockwerke. Manchmal brennt die Lunge, z.B. nach mehr als einer Stunde walken. Kopfschmerzen und Übelkeit sind so häufig, ich kann es nicht an einem Trigger festmachen. Manchmal schlägt das Herz ganz schnell oder unregelmäßig, ohne Vorwarnung. Und dann ist da die kognitive Beeinträchtigung. Brain fog – Gehirnnebel – heißt das. Ich kenne das von meiner Freundin, die an Chronic Fatigue Syndrome leidet. Der Kopf will einfach nicht so, wie ich es will. Das Kurzzeitgedächtnis ist besonders betroffen. Ich muss mich beim Sprechen anstrengen, damit ich das richtige Wort sage. Ich kann mich nicht konzentrieren. Ich vergesse alles. Das erschöpft mich noch mehr.


Mein Zwischenfazit


Ich habe viele Symptome, die alle, für sich genommen, nicht schlimm sind. Die ich alle schon mal hatte. Aber ich glaube, ich kann es mit dem Klimawandel vergleichen: Klima ist ja nicht Wetter. Stürme, Starkregen, Überflutungen, Hitzewellen, Waldbrände und andere extremen Wetterereignisse gab es schon immer. Nur jetzt gibt es sie ungleich häufiger, sie sind extremer und die Pausen dazwischen sind kürzer. Das Klima hat sich gewandelt, weil sich die Atmosphäre verändert hat. So auch mein Körper: ich hatte schon vorher eine leichte Histamin-Intoleranz, aber solange ich von Rotwein und Käse Abstand nahm, war das in den Griff zu kriegen. Früher war ich nach zwei oder drei Tagen Überstunden erschöpft und nach einem Tag wieder fit. Jetzt bin ich nach drei Stunden Arbeit erschöpft. Vergesslich sind wir alle mal, und unter Stress fällt es uns schwer mit der Konzentration. Aber bei mir ist das jetzt der Ausnahmezustand, wenn ich mich mal konzentrieren kann. Meine Freundin Barbara, bei der ich mich angesteckt habe, ist auch noch weit entfernt von völliger Genesung. Sie hat sich jetzt ein E-Bike gekauft, weil Fahrradfahren sie zu sehr anstrengt.


Angst vor einem gesellschaftlichem Riss


Ich habe Angst. Angst um unsere Welt. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass das Virus nicht harmlos ist und gleichzeitig glaube ich, dass wir damit leben werden müssen. Wir werden neue Wege finden müssen. Vor allem müssen wir als Gesellschaft unsere Werte mal neu definieren. Endloses Wirtschaftswachstum auf einem endlichen Planeten kann es nicht geben. Die Natur zeigt uns, dass wir sie nicht besiegen werden. Bisher war Zivilisation immer ein Bezwingen der Natur. Damit muss Schluss sein. Covid 20 wartet schon in den Startlöchern. Aber vor allem müssen wir Menschen uns darauf besinnen, wer wir sind. Und wer wir sein wollen.

Durch das Virus haben sich die Fronten verschoben, ich weiß nicht mehr, wer Freund oder Feind ist. Meine Freundin, die als Heilpraktikerin sehr spirituell unterwegs ist und plötzlich kein Problem darin sieht, mit Rechtsradikalen auf der gleichen Demo zu laufen? Die Freundin, die vor lauter Todesangst seit Monaten niemanden mehr getroffen hat? Die Freundin, die jegliche Kritik an den Maßnahmen der Regierung in die Kiste Schwurbel packt und mit der man keine Diskussion mehr führen kann? Wir waren alle noch im letzten Jahr beste Freunde.


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